Status Quo - Europa, Sachsen, Dresden und die Frage der Migration
Die Migrationsfrage ist wieder in aller Munde. Nicht nur in der der
bürgerlichen Öffentlichkeit wird sie wieder - und ekelhafter denn je
- diskutiert. Auch die Dresdner Linke beschäftigte sich in letzter
Zeit zunehmend mit diesem Thema. Als Beispiele sind hier zu nennen
die Besetzung der SPD-Parteizentrale in Dresden Ende November, bei
welcher Aktivist:innen in die Räume der Partei eingedrungen sind und
eine klare und öffentliche Distanzierung von der Partei
(mit-)beschlossenen GEAS-Reform forderten, oder auch die
Pro-Asyl-Demo Anfang Dezember, bei welcher hunderte Menschen gegen
das GEAS-Abkommen und für das Menschenrecht auf Asyl und die weitere
Aufnahme von Geflüchteten demonstrierten. Immer wieder tauchen im
Zusammenhang damit auch die sächsische Landtagswahl und die
Europawahl im Jahr 2024 auf. Grund genug, dass wir uns dieser
Verbindung zwischen diesen beiden Themen, fernab von nationalem
Wahltaumel und linker Illusionen über das europäische Projekt und
die Staatsräson, widmen wollen. Dabei wollen wir der Form dieses
Textes als 'Debattenbeitrag' gerecht werden und mehrere Thesen über
die europäische Migrationspolitikund die sächsischen Verhältnisse
mit euch teilen und mit euch in eine inhaltliche Debatte über unsere
vorgestellten Analyseansätze kommen. Wir versuchen dabei
Erklärungsansätze für diese Verbindung zwischen der
gesamteuropäischen Migrationspolitik und ihrem Wurzeln im
Imperialismus, der bundesdeutschen Rolle in diesem Projekt, den
daraus folgenden Ansprüchen und Forderungen an den Freistaat Sachsen
und der xenophoben Stimmung vor Ort zu liefern.
Europäischer Imperialismus und der Antimigrations-VorstoßDie EU
rüstet auf. Nicht nur im Hinblick auf den Krieg in der Ukraine,
sondern auch direkt an ihren eigenen Grenzen – und zwar gegen
Menschen, die sich in diesem Teil der Welt ein besseres Leben
erhoffen. Diese Aufrüstung ist erstmal nichts Neues. Jahr für Jahr
erhöht die EU das Budget der Grenzsicherungsbehörde „Frontex“ um
Millionenbeträge, um neues Equipment in Form von Waffen, Munition,
Panzern, Schiffen, Flugzeugen, Helikoptern und neuerdings auch
Drohnen anzuschaffen. Dezember 2023 beschlossen die
Innenminister:innen der EU-Mitgliedsstaaten dann auch die lang
ersehnte rechtliche Aufrüstung. Mit dem neuen „Gemeinsamen
europäischen Asylsystem“ (GEAS) ist es den Mitgliedsstaaten nun
endlich möglich, die Geflüchteten schon vor dem Betreten des eigenen
Hoheitsgebietes in Lagern festzuhalten, um ihre Identität
festzustellen und auch bereits in Mitteleuropa angelangte Menschen
in diese Lager abzuschieben – das alles ohne den Antrag auf Asyl
oder die Feststellung der Identität abwarten zu müssen.
Vorangetrieben wurde dieses Abkommen dabei maßgeblich von der
deutschen Bundesregierung in Form der FDP, SPD und der grünen
Partei. Mit ihrer menschenverachtenden Praxis ist die GEAS-Reform
jedoch kein Ausbruch aus einer sonst ganz anderen Politik oder eine
unerwartbare Wende in der europäischen Migrationspolitik. Viel mehr
ist es die notwendige Schlussfolgerung eines gesamteuropäischen
Vorstoßes auf Mitbestimmungsanspruch bei der Frage der Verschiebung
und Neuverteilung der Weltordnung unter Führung der Großmächte
Frankreich und Deutschland. Diese Reform reiht sich ein in eine
imperiale Politik beispielsweise in Form der Energiewirtschaft, wie
wir sie in unserem Aufruf und Flyer zum globalen Klimastreik
vergangenen September behandelten (1), oder bei der Ausbeutung
natürlicher Ressourcen, welche zur Herstellung, Verteilung und
Nutzung erneuerbarer Energien unvermeidbar sind, in Zentralafrika
und entlang der Sahelzone. In der DR Kongo geschieht momentan ein
„stiller Genozid“ unddie Sahelzone wurde in den letzten Jahren als
„Putschgürtel“ (2) bekannt, da es dort eine Vielzahl an
Militärputschen gegen die west-freundlichen Regierungen gab, welche
die Region aus einer wirtschaftlich-imperialistischen Abhängigkeit
entrissen und in ein politisches, ökonomisches und soziales Chaos
stürzten. Der immer noch tobenden Krieg in Syrien, das Warlord-Chaos
in Lybien und die Talibanherrschaft in Afghanistan sind als
Ergebnisse der Mitmischung bei der Weltordnung dabei nicht mal
notwendigerweise zu nennen. Die europäische Außengrenze sollte schon
immer verhindern, dass man die Auswirkungen des eigenen Vorstoßes
bei sich zu Hause spürt. Dafür verhandelte man Verträge mit Warlords
in Lybien oder mit dem türkischen Staatschef Erdogan, die einem
bitte die Geflüchteten vom Hals halten sollten. Da letzterer Deal
immer mehr ins Schwanken gerät, war die totale Abschottung in Form
der Frontex-Aufrüstung und des GEAS-Abkommen die logische
Schlussfolgerung für die europäischen Staatenlenker. Sachsens
SonderrolleDeutschland war führende Kraft darin, das GEAS-Abkommen
auf den Weg zu bringen. Mit Blick auf den eigenen
imperial-erwirtschafteten Reichtum, der Anzahl an in Deutschland
gestellten Asylanträge und der sich nun immens zugespitzten
Haushaltskrise, wollte man alles dafür tun, um diese Reform endlich
durchzubekommen – ohne dabei jedoch sein moralisches Gesicht
komplett zu verlieren und einen Antrag auf Freistellung für unter
12-Jährige stellte. Die beschlossene Reform ist ein Jackpot für die
Regierung und ihre Migrationspolitik. Jeder unregistrierte
Geflüchtete, der in Deutschland oder an der Grenze aufgegabelt wird,
kann direkt und ohne Umwege in das Land des ersten Grenzübertritts
abgeschoben werden. Auf Grund ihrer geographischen Lage kommen dabei
Bayern und auch dem Freistaat Sachsen eine besondere Rolle zu. Sie
bilden als süd-östlich gelegene Bundesländer das Ende der
sogenannten „Landroute“ über den Balkan, Österreich und wahlweise
Tschechien. Aus diesem Grund haben sie die Aufgabe, dichtere,
größere und intensivere Grenzkontrollen durchzuführen, um ja
niemanden durchs Spinnennetz huschen zu lassen. Verstärkte
Grenzkontrollen wie vergangenen Herbst an der tschechischen Grenze
oder ganze „Zugfilzungen“ wie im Sommer 22 am Dresdener Hauptbahnhof
sind also nur eine Frage der Zeit. Sachsens rassistische ProtesteDas
politische Klima Sachsens und Dresdens hat bereits die URA in ihrem
Debattenbeitrag (3) hinreichend charakterisiert, weshalb wir dies im
Detail nicht tun werden. Vielmehr möchten wir hier kurz darauf
eingehen, wie Europas und Deutschlands Anti-Asyl-Vorstoß diese
ideell bekräftigen. Die nationalistische Gleichung „Wir ↔ Die“
findet sich bei jeder demokratischen Partei und das aus dem
einfachen Grund, dass sie eine Grundlage eines jeglichen Staates ist
– ob demokratisch oder nicht. Wo diese Gleichung bei den Demokraten
noch eine rechtliche Kategorie ist (Staatsbürgerschaft oder nicht)
ist sie bei Teilen der AfD und den Anti-Asyl-Protesten auf Sachsens
und Dresdens Straßen mittlerweile eine völkische und das „Wir“ folgt
aus Herkunft, Hautfarbe, Familienstammbaum etc. Europa, Deutschland
und Sachsen machen diese Teilung jedoch nicht nur ideell, sondern
eben auch, wie oben erläutert, an den europäischen und deutschen
Außengrenzen und in ihren Abschiebungen praktisch. Damit bestätigen
sie die völkische Variation dieser Gleichung in der Richtigkeit
ihrer Form, wenn auch nicht in ihrem Inhalt – Form ist das „Wir ↔
Ihr“ und Inhalt Rechtlich vs Völkisch. Wenn die Herrschenden mit
ihrer praktischen Politik zeigen, dass die eigene Teilung zwischen
uns und denen doch gar nicht so falsch ist, dann hat man auch
keinerlei Grund davon abzurücken. Nein, man fühlt sich sogar
bestärkt in seiner Position und seinem Interesse. Die Unterschiede
zwischen der Radikalität der Theorie und ihrer praktischen
Umsetzung, sind dann nur noch Formsache zwischen Demokraten und
Rechtsradikalen. Die Prämisse wird als diese nicht mehr
angezweifelt.Dies ist auch der Punkt, an dem eine radikale Linke
anzusetzen hat. Statt sich auf die Seite des kleineren Übels dieser
Konkurrenz in Form der demokratischen Parteien zu schlagen, gilt es
die Prämissen - nationalistische Teilung, Standortkonkurrenz und
imperialistische Weltmachtsansprüche -, welche beide eint, zu
kritisieren und zu bekämpfen. Eine erstarkende AfD lässt sich nicht
bekämpfen, indem man sich hinter die Ampel stellt. Rassistische
Proteste kritisiert man nicht, indem man ihnen vorwirft ein Nachteil
für den Wirtschaftsstandort zu sein. Und herrschende Parteien wie
die SPD sind kein Ansprechpartner für ein Bündnis gegen die
imperialistische Abschottungspolitik.