10.04.2022: Redebeitrag bei der Kundgebung „Für eine gerechte Welt
– gegen Chancenungleichheit“ der Jugend im Kampf am 09.04.
Blick auf die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland
In den letzten zwei Jahren hat uns die Coronapandemie und der
Umgang der Regierung mit dieser wieder einmal vor Augen geführt, wie
wenig am Mythos von Gleichheit und Gerechtigkeit in einer
bürgerlichen Demokratie dran ist. Besonders Prekär-Beschäftigte,
Frauen, Migrant*innen und andere bereits stark benachteiligte
Personengruppen traf die Krise hart. Nun sollte eindeutig sein, dass
sich in dieser Zeit keine neuen Ungleichheiten auftaten, sondern
bloß bereits existierende verstärkt wurden. Wir leben in einem
kapitalistischen und patriarchalen Staat, was zwingend dauerhafte
ökonomische und politische Ungleichheit mit sich bringt. In
Deutschland gibt es dabei noch eine Besonderheit: den Unterschied
zwischen „Ost-” und „Westdeutschland”. Um diese Ungleichheit zu analysieren und zu verstehen ist es
unvermeidlich, die Vergangenheit zu betrachten, genauer gesagt
besonders die Annektion der DDR durch die BRD. Mit dieser ging eine
gänzliche kapitalistische Übernahme der ostdeutschen Planwirtschaft
einher, was die Lebensbedingungen in Ostdeutschland aber nicht
verbesserte, sondern das Gegenteil bewirkte. Westdeutsche
Kapitalist*innen ergriffen die Möglichkeit, aus der ehemaligen
DDR-Wirtschaft Kapital zu schlagen. In erster Linie wurden
staatliche Betriebe privatisiert oder geschlossen, konkreter gesagt:
85% des volkseigenen Vermögens ging durch die Treuhand in den Besitz
westdeutscher Unternehmer*innen über. Es folgte selbstverständlich
eine starke Staatsverschuldung des wiedervereinigten Deutschlands,
die – wie sollte es auch sonst sein – in erster Linie auf die
Arbeiter*innenklasse abgewälzt wurde. Eine Maßnahme dafür war der
Solidaritätszuschlag, den sowohl westdeutsche als auch ostdeutsche
Arbeiter*innen mittlerweile seit 30 Jahren zahlen müssen. Dazu kamen
Einsparungen besonders in der ehemaligen DDR: Steigende Mieten für
Plattenbau-Wohnungen, niedrigere Sozialleistungen, verfallende
Infrastruktur usw. usf. Ebenso begann zu diesem Zeitpunkt eine
neoliberale Umgestaltung des deutschen „Sozialstaates”: Hartz IV
wurde eingeführt, das Gesundheitssystems zunehmend privatisiert und
ausgehöhlt und Leiharbeit ausgeweitet, um nur ein paar Beispiele zu
nennen. Dies hatte für die ostdeutsche Wirtschaft, wie auch für den
Lebensstandard der Arbeiter*innen drastische Folgen, die bis heute
bemerkbar sind. Die Übernahme ostdeutscher Unternehmen bedeutete
nicht nur das leichte Ausschalten von Konkurrenz für westdeutsche
Kapitalist*innen, sondern auch die Möglichkeit der ökonomischen
Ausdehnung in Richtung Osteuropa. Dadurch lässt sich von einer
starken Abhängigkeit ostdeutscher Unternehmen von westdeutschen
Unternehmen sprechen, ebenso ist eine industrielle Unterentwicklung
im Gegensatz zu den meisten anderen Teilen Deutschlands
erkennbar. Und auch die Auswirkungen dessen auf den Lebensstandard
ostdeutscher Arbeiter*innen sind wie gesagt unmöglich zu übersehen:
Noch 30 Jahre nach der Wende verdienen Arbeitende im Osten im
Schnitt rund 17% weniger als Arbeiter*innen in Westdeutschland,
Tarifverträge sind wesentlich weniger profitabel für sie und die
Arbeitslosenquote liegt noch deutlich über der in Westdeutschland,
2021 bei 7,1% im Vergleich zu 5,4%. Die schlechten ökonomischen
Aussichten, sowie Verzweiflung und Unsicherheit hatten besonders
direkt nach der Wende zur Folge, dass viele ostdeutsche
Arbeiter*innen sich entschieden, nach Westdeutschland zu ziehen.
Ostberlin ausgenommen reduzierte sich die Einwohner*innenzahl der
neuen Bundesländer zwischen 1989 und 2015 von 15,1 Millionen auf
12,5 Millionen. Und auch heute noch entscheiden sich viele, vor
allem junge, Ostdeutsche für einen Umzug oder pendeln täglich zum
Arbeiten in den Westen. Dazu kommt die ebenfalls verbreitete Praktik
der „Arbeitnehmerüberlassung” oder Leiharbeit, durch die
Arbeiter*innen an andere Unternehmen „geliehen” werden, Anspruch auf
weniger Lohn haben und unter prekären Arbeitsbedingungen zu arbeiten
haben. In Deutschland betrifft dies natürlich wieder in erster Linie
ostdeutsche Arbeiter*innen. Diese Ungleichheit resultiert direkt aus der Verfolgung der
Interessen des Kapitals durch den bürgerlichen Staat und wird von
diesem auch nicht bekämpft werden. Das zeigt uns, dass wir uns nicht
auf die vermeintlich soziale Politik der BRD verlassen dürfen und
uns gemeinsam für eine systemische Veränderung einsetzen
müssen.